Wie gering hätte der Schaden der Corona-Pandemie sein können? Das gilt es – auch für zukünftige Pandemien – zu ermessen, schreiben der Medizinhistoriker Malte Thießen und der Molekularbiologie Emanuel Wyler.

Deutschland macht Inventur. Seit Monaten werden Erfahrungen aus der Corona-Pandemie gesammelt. Das Virus und seine Folgen werden analysiert, über Schaden und Nutzen der Gegenmaßnahmen diskutiert. Vergleiche liegen bei solchen Bilanzen nahe. Wie kämpften die Deutschen in der Vergangenheit gegen Viren und ihre Folgen? Wie sind andere Gesellschaften diesem und anderen Erregern begegnet?

Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein waren die meisten Infektionskrankheiten eine kaum verstandene Plage. Menschen begegneten ihnen weitgehend hilflos und schicksalsergeben. Millionen Menschen starben in Seuchenzügen, an heute kaum mehr bekannten Viren und Bakterien. Unser heutiges Wissen über Mikroben, ihre Ansteckungswege und Eindämmungsmöglichkeiten ist dagegen so groß, dass wir im Kampf gegen Pandemien vor ganz neuen Möglichkeiten stehen. Und so zeigte sich in der Corona-Pandemie ein fundamental anderer Anspruch als in der Vergangenheit: die gesundheitlichen Folgen möglichst gering zu halten. Und zwar nicht nur für einzelne, sondern für alle.

Im 21. Jahrhundert ist es damit möglich geworden, den gemeinsamen Schaden zu minimieren. Dennoch kann Pandemiebekämpfung nicht ohne Schäden abgehen. Diese Erkenntnis ist nicht so trivial, wie sie klingt. Denn sie fordert uns dazu auf, grundsätzliche Fragen zu beantworten: Welche Schäden kann und sollte eine Gesellschaft in Kauf nehmen? Und welche Schäden dürfen nicht zur Verhandlung stehen? Damit stellt sich aber eine neue, nicht minder fundamentale Frage: Was ist eigentlich der kleinstmögliche gemeinsame Schaden in einer Pandemie?

Die entscheidende Frage: Wie viel Schaden hat Corona angerichtet – und was wäre vermeidbar gewesen?

Erst den kleinstmöglichen Schaden zu ermessen, hilft dabei zu bewerten, wie gut oder schlecht Deutschland durch die Covid-Pandemie gekommen ist. Die Frage, wie hoch der kleinstmögliche Schaden ist, sollte daher auch am Anfang zukünftiger Pandemiebekämpfungen stehen. Nur wie kommen wir dahin: den kleinstmöglichen Schaden zu ermessen – und gesamtgesellschaftlich zu erreichen?

Zunächst einmal sollten wir das ganze Bild sehen. Wir müssen uns darüber verständigen, wie groß die Risiken und wie wirksam die Gegenmaßnahmen sind, aber auch darüber, welche Folgen sie haben. Für diese Verständigung braucht es Interdisziplinarität. Da Infektionskrankheiten die sozialsten aller Krankheiten sind, die sämtliche Bereiche einer Gesellschaft betreffen, benötigen wir sämtliches Wissen, das wir zur Verfügung haben. In Krisenzeiten nützt uns Interdisziplinarität also auch als eine Art Komplexitätsdienstleisterin.

Für manchen Politiker und manche Journalistin schien die Antwort auf die Schadensfrage zu Beginn der Corona-Pandemie eindeutig: Bei einem 90-jährigen multimorbiden Menschen habe der Schaden ein anderes Gewicht als bei einem Menschen mittleren Alters oder sogar bei einem Kind. Aber wer legt das fest? Wer mit vulnerablen Personen zusammenlebt, wird wahrscheinlich zu einer anderen Bewertung kommen als jemand, der ein Unternehmen am Laufen halten muss. Und wie gehen wir mit ganz anderen Schäden um, zum Beispiel mit den Auswirkungen des Lockdowns für Kinder, mit Schulschließungen und Kontaktverboten oder mit den wirtschaftlichen Folgen für Unternehmen und Kommunen?